Neuere Forschungen zu den Dachauer Prozessen

Neuere Forschungen zu den Dachauer Prozessen

Organisatoren
KZ-Gedenkstätte Dachau
Ort
Dachau
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2021 - 30.09.2021
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Von
Percy Herrmann, Wissenschaftliche Abteilung, KZ-Gedenkstätte Dachau

Im Rahmen der Konzeption einer neuen Sonderausstellung zu den Dachauer Prozessen lud die KZ-Gedenkstätte Dachau zu einem Workshop in das Max-Mannheimer-Studienzentrum ein. Im Fokus standen die Vorstellung neuerer Forschungen zu den Dachauer Prozessen und der Austausch über aktuelle Erkenntnisse mit dem Ziel, ein stärkeres öffentliches und fachliches Interesse zu erwecken. In Verbindung mit der neuen Sonderausstellung sollte der Workshop die Forschung zu den Dachauer Prozessen wiederbeleben, bestehende Erkenntnisse bündeln und zu neuer Forschung inspirieren.

Zwischen 1945 und 1948 betrieben Militärgerichte der US Army in den von ihnen besetzten europäischen Gebieten die justizielle Ahndung von NS-Verbrechen. Im Gegensatz zu den Nürnberger Prozessen basierten die Dachauer Prozesse auf etabliertem Völkerrecht: der Haager Landkriegsordnung von 1907 und der Genfer Kriegsgefangenkonvention von 1929. Die Verfahren befassten sich folglich hauptsächlich mit Kriegsverbrechen. Nach jüngsten Befunden des Leiters des Marburger Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse (ICWC), Wolfgang Form (Marburg), handelte es sich um insgesamt 461 Verfahren gegen 1912 Angeklagte.

CHRISTOPH THONFELD (Dachau), Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der KZ-Gedenkstätte Dachau, eröffnete die Veranstaltung und verwies auf aktuelle Forschungen zur Thematik. Gegenwärtige Diskurse beträfen die Frage nach Formen individueller Verantwortung bei Massenverbrechen, die Weiterentwicklung des Militär- und Völkerstrafrechts, die Entstehung des Rechtskonstrukts des joint criminal enterprise und das Verhältnis des Letzteren zur Rechtsfigur des common design.

Im ersten Beitrag führte ROBERT SIGEL (München) die Anwesenden durch einen kritischen Rückblick auf seine 1992 publizierte Studie „Im Interesse der Gerechtigkeit“ – immer noch ein Standardwerk zu den Dachauer Prozessen. Ausgehend von einer kürzlichen Bewertung seiner Arbeit als „pioneering study“1, überprüfte Sigel, was seine Studie geleistet hat – und was nicht. Wesentliche Erkenntnisse seien die Benennung der Akteursgruppen und die Erhebung von Zahlen zu den Prozessen, Angeklagten und Verurteilungen gewesen. Vor allem aber seien die Dachauer Prozesse zum ersten Mal einer größeren Öffentlichkeit als Teil der amerikanischen Aufarbeitungsbemühungen von NS-Verbrechen wieder ins Bewusstsein gerufen worden. Nicht geleistet worden sei eine tiefergehende Recherche zu einzelnen Biographien von Angeklagten, Anklägern oder anderen Prozessbeteiligten und eine systematische Analyse der Nachfolgeprozesse. Schließlich stellte Sigel den Anwesenden das entscheidende Paradigma seines Rückblicks vor: Die Dachauer Prozesse waren bis zu seiner ersten Arbeit 1992 kaum bekannt in der deutschen Öffentlichkeit, doch auch heute, fast 30 Jahre später, seien die Prozesse nicht viel bekannter, sondern stünden weiterhin „im Schatten von Nürnberg“. Dies sei damit zu begründen, dass die Täter der Dachauer Prozesse „aus der Mitte der Gesellschaft“ kamen, während die herausgehobenen Angeklagten der Nürnberger Prozesse es der deutschen Bevölkerung ermöglichten, eine gewisse Distanz zu den Verbrechen zu wahren. Das Problem läge folglich in einer Nicht-Anerkennung der NS-Verbrechen durch einen Großteil der deutschen Bevölkerung.

JOHANNES LEHMANN (Ulm) stellte seine Studie zum KZ-Kommandanten Martin Gottfried Weiß vor, in der er dessen Verteidigungsstrategien vor Gericht und den Umgang mit dem Todesurteil betrachtet. Weiß sei bereits ab 1923 Teil antidemokratischer und paramilitärischer Vereinigungen gewesen und habe sich vor allem während seiner Zeit als Adjutant von Hans Loritz innerlich an die SS gebunden. Vor Gericht habe sich Weiß vor allem mit den Erleichterungen verteidigt, die er den Häftlingen als Kommandant des KZ Dachau gewährt habe. Seine Aussagen seien durch positive Häftlingsberichte unterstützt worden. Lehmann arbeitete jedoch heraus, dass Weiß’ Amtsantritt im KZ Dachau mit der Wende im Deutsch-Sowjetischen Krieg zusammenfiel. Alle Änderungen im Häftlingsalltag seien auf Befehle zurückzuführen, die die Erhöhung der Häftlingsproduktivität bezweckten. Die Aneignung positiver Aspekte als eigene Taten ergänzte Weiß durch die Leugnung der Verantwortung für negative Aspekte und den Verweis auf höhere Befehle. Zusammenfassend stellte Lehmann fest, dass Weiß’ schneller Aufstieg in der SS nicht durch seine Expertise im Arbeitseinsatz der Häftlinge begründet lag, sondern in seiner Anpassungsfähigkeit, die es ihm ermöglicht habe, die Erwartungen seiner Vorgesetzten stets zu erfüllen.

LUWDIG EIBER (Augsburg) griff diesen Punkt auf und skizzierte Weiß als Technokraten, der zufrieden gewesen sei, wenn er die ihm übergebenen Aufträge erfüllte. Am Beispiel des Dachauer KZ-Außenlagerkomplexes Kaufering werde deutlich, dass Weiß eben keinen Wert auf die Gesundheit der Häftlinge gelegt habe, da er keine Befehle hatte, die Produktivität dieser Häftlinge zu erhalten.

MARTIN GRUNER (Würzburg) stellte seine Studie zum Prozess gegen den ehemaligen KZ-Kommandanten Alexander Piorkowski und dessen Adjutanten Heinz Detmers vor. Im Detail betrachtete Gruner den Prozessverlauf, die Bedeutung des common design in diesem Prozess, die Verteidigungsstrategien Piorkowskis und die Urteile. Piorkowski trat früh in die SS ein und war bereits 1937 kommissarischer Kommandant des KZ Lichtenburg. Zwischen Februar 1940 und September 1942 war er Kommandant des KZ Dachau, jedoch aus gesundheitlichen Gründen selten im Lager. Das common design bot bei der Anklage gegen Piorkowski und Detmers den Vorteil, dass vor allem Detmers für seine Partizipation am Betrieb des Konzentrationslagers verurteilt werden konnte. Detmers profitierte jedoch davon, dass der zu ahndende Tatzeitraum erst am 1. Januar 1942, mit der Erklärung der Vereinten Nationen, begann und mit Detmers‘ Versetzung im Februar 1942 endete. Nachteilig an der Verwendung des common design sei jedoch, dass vor allem die Verurteilten sich schwertaten, dessen Rechtsgrundlage – den wissentlichen und aktiven gemeinschaftlichen Vollzug einer verbrecherischen Tat – zu akzeptieren. Gruner stellte schließlich die Frage, ob die Dachauer Prozesse als Mittel der Umerziehung, Wahrheitsfindung und Demokratisierung erfolgreich waren. Das Ergebnis falle gespalten aus: Die Arbeit der deutschen Spruchkammern sei ungenügend gewesen, aber als Ausgleich führten die Militärprozesse dazu, dass die Verbrechen des NS-Regimes bekannt gewesen und als solche anerkannt wurden. Mit den Urteilen wurde den Opfern zwar Genugtuung zuteil, sie erhielten jedoch keine Entschädigung.

DOMINIQUE HIPP (Berlin) untersuchte die Aussagen der Angeklagten im Dachau-Hauptprozess. Sie betrachtete die Erläuterungen der Angeklagten als „nicht-fiktionales Erzählen“, das im Grunde einer Konstruktion von Wirklichkeit diene. Es seien demnach drei Elemente, die die Aussagen der Angeklagten prägten: prozessimmanente Anforderungen, fragmentarische Selbstdarstellung und performatives Erzählen. Die Erzählweise der Prozessbeteiligten werde in erster Instanz durch die internen Anforderungen des Verfahrens beeinflusst: Der Richter übe eine moderierende Rolle aus, die direct examination biete die Möglichkeit eines kohärenten Aufbaus und Ablaufs einer Erzählung, während die cross examination diesen Aufbau stören solle. Das Element der fragmentarischen Selbstdarstellung ergäbe sich aus den Einlassungen der Akteure während des Prozesses. Die Beteiligten erzählten angeblich erinnerte Momente, äußerten sich spezifisch während der Kreuzverhöre und verwandten sprachliche Schemata mit dem Ziel der Selbststilisierung. Gleichzeitig komme das Element des performativen Erzählens zur Geltung: Mittels ihrer vorprozessualen Schreiben und der Aussagen im Verfahren sollten die Adressierten zu einer Handlung entsprechend dem Willen der Erzählenden beeinflusst werden. Hinter dem performativen Erzählen stehe das strategische Ziel, die subjektive Sicht des Adressierten zu verändern – das Anliegen also im Sinne des Angeklagten zu verschieben. Die Folge des performativen Erzählens sei jedoch die Entstehung des „unzuverlässigen Erzählens“, das sich durch Widersprüche zu anderen Beweismitteln und durch den Einfluss weltanschaulicher Prägung kennzeichne. Wegen des Einflusses dieser drei Elemente auf die Aussagen der Angeklagten könnten diese nicht in die Kategorien „wahr“ oder „falsch“ eingeordnet werden.

SUSANNE MEINL (München) berichtete über ihre Forschungen zu den Fliegerprozessen als Verbrechen der Volksgemeinschaft vor Gericht. Im ersten Teil stellte Meinl detailliert die unterschiedliche Behandlung der alliierten Flieger am Beispiel von Richard C. Travers dar. Bei einem Luftangriff auf die BMW-Werke in Allach wurde das Flugzeug des US-Piloten abgeschossen und er durch einen Anwohner in Gewahrsam genommen und zur örtlichen Polizeistation gebracht. Sein Kamerad Malcolm Greene, der nur wenige Meter entfernt in einem anderen Ort landete, wurde von Anwohnern ermordet. Die Vorfälle, die in der Öffentlichkeit lange als spontaner „Volkszorn“ stilisiert worden sind, seien jedoch das Ergebnis einer durch das NS-Regime orchestrierten systematischen Ermordung von abgestürzten Piloten. Obwohl tatsächlich ein Teil der Tötungen die Folge willkürlicher Übergriffe der deutschen Bevölkerung gewesen sei, dominierten unter den Fliegermorden doch die gezielten Tötungen durch organisierte Jagdkommandos der NSDAP, der SS, Gestapo, Polizei und der Wehrmacht. Verschiedene Organisationen der NSDAP und des NS-Regimes wetteiferten darum, die Bevölkerung gegen alliierte Piloten aufzuwiegeln. Während Wehrmacht und Polizei instruiert worden waren, den Abgestürzten keinen Schutz vor der Selbstjustiz der Bevölkerung zu gewähren, wurde mit der propagandistischen Schaffung des Bildes des amerikanischen „Luftgangsters“ oder „Terrorfliegers“ versucht, Flieger zu kriminalisieren und ihnen somit den Kombattantenstatus abzuerkennen. Das Ergebnis sei eine juristische Grauzone gewesen, in der die Ermordung von Kriegsgefangen durch die Beschwörung des „Volkszorns“ getarnt werden konnte. Meinl kam zu dem Fazit, dass die Dachauer Prozesse durchaus den Anteil der „Volksgemeinschaft“ an den Fliegerprozessen offenbaren könnten – sofern alle vorhanden Verfahrensunterlagen berücksichtigt und mit deutschen Spruchkammerakten ergänzt würden. Unter Einbezug aller vorhandenen Quellen ließen sich persönliche Motive und personelle Verflechtungen der Täter offenbaren, die den US-Ermittlern meist verborgen geblieben sind.

Im letzten Beitrag fasste EDITH RAIM (Augsburg) die Charakteristika der Rechtsprechung in westdeutschen Verfahren zu KZ-Verbrechen seit 1949 zusammen. Die erste Phase der bundesdeutschen Ahndung von KZ-Verbrechen zeichne sich ab 1950 durch einen Rückgang der Verfahren aus, bedingt durch den endgültigen Abschluss alliierter Verfahren und die Übertragung der alleinigen Verantwortlichkeit auf deutsche Gerichte unter ausschließlicher Verwendung deutschen Strafrechts. Vereinzelte Verfahren mit Bezug zum Konzentrationslager Dachau seien durch die Staatsanwaltschaft München II eröffnet worden. Andere Verfahren, denen keine Tatorte zugewiesen werden konnten oder bei denen sich die Tatorte außerhalb der Bundesrepublik befanden, wurden zentral an der Staatsanwaltschaft in Köln eröffnet. Die zweite Phase der deutschen KZ-Verfahren zwischen 1960 und 1981 werde allgemein als Höhepunkt der Ermittlungen zu NS-Prozessen bezeichnet. Ursache dafür sei die hohe Resonanz auf den Ersten Frankfurter Auschwitzprozess 1963/64 gewesen. Verbrechen im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz wurden jedoch bereits in der Besatzungszeit in München oder Berlin verhandelt – da ein entsprechendes Medienecho aber ausblieb, werden diese Prozesse bis heute kaum rezipiert. Gleiches gelte für eine Verurteilung wegen eines Erschießungsbefehls auf einem Todesmarsch des KZ Auschwitz, die 1958 vor einem bundesdeutschen Gericht verhandelt worden ist. In der aktuellen Phase der bundesdeutschen Ahndung von KZ-Verbrechen, die seit dem Majdanek-Prozess (1975-1981) andauere, erregen die Verfahren regelmäßig großes mediales Interesse. Die Bestätigung der Verurteilung von Oskar Gröning für Beihilfe zum Mord durch den Bundesgerichtshof im Jahr 2016 lasse vermuten, dass sich auch der letzte Prozess zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen mit einem KZ-Verbrechen befassen werde. Generell zeichnen sich die Anklagen und Prozesse durch eine historische Unausgewogenheit aus, da sich die Ankläger oft nur auf das Verbrechen konzentrierten, das die besten Aussichten auf eine Verurteilung vor Gericht versprach.

Während der Abschlussdiskussion wurde vor allem die Bedeutung der Prozessunterlagen als äußerst wichtige Quelle für die Ereignisse in den Konzentrationslagern betont. Die Veranstaltung machte das Bedürfnis nach weiteren Studien zu den Dachauer Prozessen deutlich: Analysen der Vorermittlungen, die systematische Aufarbeitung der Folgeprozesse oder biographische Studien zu einzelnen Angeklagten, Richter, Anklägern, Zeugen oder Verteidigern.

Zum Abschluss der Veranstaltung berichtete Christoph Thonfeld, dass die KZ-Gedenkstätte Dachau in Zusammenarbeit mit dem ICWC Marburg und dem Stadtarchiv Mühldorf beabsichtige, den Gesamtbestand der Prozessunterlagen zu den Dachauer Prozessen zu digitalisieren. In Zukunft sollen die Verfahrensunterlagen der Dachauer Prozesse auch in der KZ-Gedenkstätte Dachau, in unmittelbarer Nachbarschaft des ehemaligen Gerichtsorts, allen Forschenden zur Verfügung stehen und zentral erforscht werden können.

Konferenzübersicht:

Christoph Thonfeld (Dachau): Begrüßung und Einführung

Robert Sigel (München): „Im Interesse der Gerechtigkeit“ – revisited

Johannes Lehmann (Ulm): Martin Gottfried Weiß – eine SS-Karriere und ihre juristische Aufarbeitung

Martin Gruner (Würzburg): Piorkowski – rechtsgeschichtliche Einordnung eines Nachfolgeprozesses

Dominique Hipp (Berlin): Dachauer Prozesse – Verbrechen als Erzählung

Susanne Meinl (München): Fliegerprozesse – Verbrechen der Volksgemeinschaft vor Gericht?

Edith Raim (Augsburg):– Charakteristika der Rechtsprechung in deutschen Verfahren zu KZ-Verbrechen seit 1949

Anmerkung:
1 Greta Lawrence, The United States and the Concentration Camp Trials at Dachau, 1945-1947 (Doctoral thesis) 2019, S. 14, in: University of Cambridge, https://doi.org/10.17863/CAM.33348 (4.10.2021).


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